Kapitel 10
Auf neue Bekanntschaften, Sonnenschein und aufs immer weiter Einleben. Oder wie man hier sagt: Skål.
Hei ✨
Schön dich hier zu treffen. Diese Woche hatte ich „schulfrei", was mir sehr gelegen kam. Am Anfang der Woche saß ich mit zehn Rentnern beim Abendessen in einem kleinen Holzhaus, und am Ende der Woche befand ich mich dann in einem ähnlichen, etwas größeren Holzhaus mit zwanzig unter Zwanzigjährigen beim Julebord. Dazwischen gab es ein bisschen Alltag, weiteres Anlernen auf der Arbeit, Strickcafé und Weihnachtsvorbereitungen.
Meine Wanderfreundin hatte mich eingeladen, mit zu einem Essen zu einer Freundin zu kommen. Diese lädt in der dunklen Jahreszeit alle zwei Wochen ihre Freunde und Freundinnen zum gemeinsamen Mittagstisch ein und jeder kann noch jemanden mitbringen. Da saß ich dann also in einer heiteren Gruppe und habe wieder einmal den Altersdurchschnitt gesenkt. Der kleine Raum wurde von vielen Geschichten und Lachen gefüllt.
Am nächsten Morgen wollte ich gar nicht unter meiner Bettdecke hervor, weil es so kalt geworden war. Minus 16º C 🥶. Wie schön, dass ich nicht zur Schule musste. Dafür trinke ich die erste Tasse Tee jetzt immer vor dem Kamin, denn der wird morgens als Erstes angemacht. Eine weitere typisch norwegische Sache kann ich jetzt als erledigt abhaken, aber dazu steht unten mehr 😉.
Licht & Glück ☀️
Ich lasse das Fahrrad ausrollen, stütze mich auf den Zaun, dessen Pfähle mit Moos und Flechten bewachsen sind, und richte mein Gesicht in die feinen Sonnenstrahlen, die gerade erst den Bergkamm überwunden haben. Unter mir am Flussufer treiben kleine Eisschollen, und für die nächsten Tage hat sich wieder Schnee angekündigt. Ich schließe die Augen und lasse das goldene Licht durch meine Lider und gefühlt bis in die hintersten Winkel meiner Seele scheinen. Es ist selten geworden, dass ich noch direktes Sonnenlicht abbekomme, und es fühlt sich jedes Mal wie ein Luxus an.
Zwei Tage später:
Ich sitze im Bus. Kein Linienbus, sondern ein Maxitaxi, wie man hier sagt. Draußen ist es dunkel, und es liegen bestimmt zehn Zentimeter Schnee, der in der letzten Nacht gefallen ist. Neben mir liegt ein Beutel mit meinen Winterschuhen, die ich vorhin gegen schicke, aber nicht wintertaugliche Schuhe getauscht habe (hat aber nichts gebracht, denn ich bin auf dem Weg trotzdem einmal ausgerutscht). Heute mussten Daunenjacke und Wollunterwäsche zu Hause bleiben. Um mich herum sitzen lauter junger Menschen, jünger als ich, in Anzügen und festlichen Kleidern. Was für eine ungewohnte Situation 😄. Der Bass der dröhnenden Musik vibriert in meinen Ohren. Die Stimmung ist ausgelassen, denn wir sind auf dem Weg zum Julebord. So nennt man die typischen Weihnachtsfeiern hier. Obwohl ich erst seit einer Woche an der Tankstelle arbeite und sogar noch im Anlernen bin, wurde ich eingeladen.
Später am Abend:
Massive Holzbalken bilden die Wände des offenen Wohnzimmers in dem zweistöckigen Holzhaus, wo das Bärenfell an der einen Wand, neben dem knisternden Kamin hängt, und wo von der anderen Seite ein wirklich riesiger Elchkopf das Treiben unter sich beobachtet. Mit Tischen, auf denen vor lauter Dosen, Flaschen und Bechern kein Platz mehr ist, um noch irgendwas draufzustellen, und einem Boden, dessen Haftung inzwischen stark zugenommen hat. Ja, es ist ein richtiges Julebord im Gange, mit festlichem Essen, viel Alkohol und Musik. Zum Glück habe ich mein norwegisches Songrepertoire von den anfänglichen Disneysongs längst ausgeweitet und kann doch, zur Begeisterung der anderen, einige Lieder mitgrölen.
Noch später am Abend:
Ich habe mich kurz auf einen Stuhl sinken lassen, um einen Schluck zu trinken, und während ich die Szene betrachte, wird die Welt leiser und scheint sich langsamer zu drehen. Die Musik rückt in den Hintergrund, und ich muss daran denken, wie alles in der letzten Zeit irgendwie an seinen Platz gefallen ist und fällt, als wäre es schon immer dazu bestimmt gewesen. Als gäbe es gar keine andere Möglichkeit, außer dass ich hier bin. Herkommen musste, um genau jetzt das alles mitzuerleben. Als hätte das auf mich gewartet. Dankbarkeit und Glück erfüllen mich, und fast steigen mir Tränen in die Augen. Aber dann nimmt die Musik wieder Fahrt auf und holt mich zurück in den Moment. Ich geselle mich zurück zu den anderen, zu der Gruppe von Menschen, von denen mich bis auf ein paar wenige die meisten bis heute Abend nicht kannten, aber von denen immer wieder jemand zu mir kommt, um mich zu fragen, ob es mir gut geht, ob ich mich wohlfühle. Und jedes Mal kann ich nur lächeln, denn obwohl sich die meisten von ihnen schon seit vielen Jahren kennen, schaffen sie es, dass ich mich als Teil davon fühle. Also ich bin trotzdem noch der Weirdo aus Deutschland, der kein Alkohol trinkt und die meiste Zeit ziemlich ruhig ist, aber ich fühle mich akzeptiert. Von Anfang an und den ganzen Abend über. Als kurz vor Ende einer der Fünfzehnjährigen auf mich zugetorkelt kommt und mir höflich die Hand reicht, tut er mir fast leid, als er wissen will, wie alt ich bin. Denn bei der Antwort sehe ich ein Licht in seinen Augen erlischen (nachdem es einige Sekunden gedauert hat, bis die Information an sein Gehirn weitergeleitet und dort verarbeitet wurde). Kommentarlos wendet er sich ab und schwankt von dannen 😄.
Und als das Maxitaxi unsere Truppe um kurz nach zwei wieder abholt, federn meine Schritte leicht über den Schnee (so leicht, dass ich mich fast nochmal hinlege), und ich grinse meiner Kollegin zu, die meine anfänglichen Bedenken aus dem Weg geräumt und mich überredet hatte, mitzukommen. Als ich dann nach der Fahrt die letzten Meter zu meiner Haustür gehe, hat die Müdigkeit übernommen, während das Echo des Abends noch in mir nachklingt.
Inspiration
Ein Song für federnde oder tanzende Schritte, auf dem Weg zur nächsten Feier oder zum nächsten Treffen 🪩
Level Up ⬆️
Schnee 🌨️
Der Schnee ist zurück und hat alles wieder unter einer fluffigen Schicht begraben.
Konto ☑️
Dank Fødselsnummer endlich ein norwegisches Bankkonto eröffnen können.
Julebord ⭐
Das steckt also hinter dem Fest, von dem ich vorher schon so manches gehört hatte.
Bis zum nächsten Mal ✨